Tag 1
Dienstag, 26. November 2019
Die Aufmerksamkeit zum Reißen gespannt, die sprichwörtliche Nadel – man verzeihe dieses abgedroschene Sprachbild gleich zu Beginn – hätte man fallen hören können: Die gestrige Eröffnung des Festivals zeigte sich von seiner konzentriertesten Weise. Das zahlreich im Literaturhaus erschienene Publikum verfiel dem Sog aus Stimme, Erzählung und Vortrag; das dem so war lag ohne Zweifel an den Autor*innen, die es zu erleben gab. Robert Schindel eröffnete mit Der rote Ball, einer Geschichte über seine Kindheit kurz nach Ende des Zweiten Weltkrieges, als der Umzug aus Döblin in die Leopoldstadt ihn zum Fußballspielen auf die Jesuitenwiese brachte. Der titelgebende rote Ball (wie der Text Teil der im Literaturhaus zu sehenden, Bild, Objekt, Installation und Film umfassenden und das Festival begleitenden Ausstellung) wurde in den Träumen des Kindes zu einem Platzhalter für die oft unbewussten, von den Kriegsbombardements gebliebenen Ängste, die sich im geträumten Hüpfen des Balls mit dem beim Fußballspiel gehörten Ruf nach dem „Judenbua“ vermischten. Schindel las zudem zwei Gedichte, die Angst als untergründige Kindheitserfahrungen weiter aufschlüsselten, und die Bühne für Friederike Mayröcker bereiteten. Nicht nur ihre Texte, auch ihr Auftreten, ihre Stimme vor allem, sind ein Erlebnis. Bald 95-jährig las sie in einer unerwartet starken, ergreifenden Weise. Zumindest mir ergeht es bei Mayröcker oft so, dass ich ihr mit geschlossenen Augen zuhöre und im Kopf beginnen Bilder zu strömen, die im gestrigen Fall Feuer umfassten, brennende Körper, Gebete, Derrida und Duchamps als Säulenheilige eines Sammelsurium an Welt und Kunst und Leid
. Die Lesung bescherte das Gefühl, dass schon in der Tatsache, dass sich derart viel Leben und Erfahrung in einen literarischen Text bannen lassen, eine Geste des Aufbegehrens liegt, eine Ahnung wiederum, deren Ausformulierung im Hauptakt der Eröffnung eine maßgebliche Rolle spielen sollte: Die aus Sierra Leone stammende, in Schottland aufgewachsene Autorin Aminatta Forna hielt eine Rede mit dem Titel Why the World Needs New Stories (Warum die Welt neue Geschichten braucht), eigens für das Festival verfasst und zugleich eine Art Poetolgie ihres eigenen, sehr zu empfehlenden Romanwerks, das u. a. in The Devil that Danced on the Water um die Hinrichtung ihres in Sierra Leone als Politiker tätigen Vaters kreist.
Eingangs erzählte sie von einer Freundin, die sie tagsüber hier in Wien getroffen habe und deren Familie im Zuge des Zweiten Weltkrieges nach Großbritannien geflohen war. Die Mutter weigerte sich, je wieder nach Österreich zurückzukehren, erst die Tochter schloss die biografische Lücke. In Verbindung mit den Texten von Robert Schindel und Friederike Mayröcker ergab diese Bemerkung ein Bewusstsein dafür, dass die Angst, die in Familien verborgen liegt und die in Bezug auf Sierra Leones jüngster Vergangenheit auch ein wichtiger Teil von Fornas Schaffen ist, in verschiedenster Weise nachwirkt und unser Leben mehr beeinflusst, als es vordergründig den Anschein hat. Diesen Mechanismen nachzuspüren und ihnen eine Form, eine Sprache zu geben, ist eine der Aufgaben, der sich gute Literatur stellen muss. Aminatta Forna spürte dieser Anforderung in ihrer in Eloquenz, Sprachwitz- und gefühl mehr als überzeugenden Rede nach (abgedruckt in der Sonderausgabe der Kolik, auf die mit Nachdruck hingewiesen sei, finden sich darin doch Essays, Lyrik, Prosa und Graphic Novel-Auszüge aller zu den Fried-Tagen geladenen Autor*innen). Die Herausforderung, gerade aus (west-)afrikanischer Sicht, neue Geschichten zu finden, illustrierte sie an Joseph Conrads Heart of Darkness, in denen die Bevölkerung des heutigen Kongos nicht über die Rolle stummer, am Flussufer drohender Statisten hinauskommt, und Chinua Achebes Things Fall Apart, eine Antwort auf Conrad, die dem aus europäischer Sicht zu Schablonen degradierten Blickwinkel eigene Legenden entgegensetzte, eigene Traditionen und dadurch ein eigenes Bewusstsein.
Dass die Mythen, denen wir uns bisher bedient haben, gerade in der Jetztzeit, geprägt von den Anforderungen des Internets und der damit verbundenen beschleunigten Wahrnehmung, Verbreitung und Manipulation von Identität, hinfällig sind, dass sie eine Aktualisierung benötigen, um der Gegenwart gerecht zu werden, wurde in Fornas Rede mehr als deutlich. Mit dem Erstarken von Widerstand gegen das weiße, patriarchale Machtzentrum herrscht ein Bedarf an neuen Geschichten. Sowohl für jene, die den Rand, als auch für jene, die das zerfallende Zentrum besetzen . Eine Notwendigkeit an Erzählungen, die den Anderen, den bisher Stummen, die Missachteten, den von Angst und Sprachlosigkeit geknebelten, eine Stimme geben – Stimme als Synonym für Ideale, Tradition, einer imaginierten Welt, in der man sich wiederfindet und die ein Zuhause bilden kann.
Wir benötigten neue Geschichten, so Forna, also schreiben wir sie, und die alten haben wir neu erzählt und uns dabei selbst neue Rollen zugedacht. Fornas Rede war ein Weckruf und eine Mahnung gleichermaßen, neugierig zu bleiben und an die Widerstandskraft von Kunst zu glauben, angetrieben von der Überzeugung, dass Literatur eine besondere, Angst ebenso wie Machtstrukturen auflösende Kraft innewohnt.
© Robert Prosser