Im glasüberdachten oberen Geschoss des Literaturhauses finden dieses Jahr die Lesungen der Erich Fried Tage statt und wenn mir jetzt beim Hin- und Herrücken am Stuhl, während ich auf den Eröffnungsvortrag warte, der Laptop vom Schoß rutschte – wie ich fürchte – dann fiele er zwischen den Streben des Geländers hindurch und ganz sicher auf einen wichtigen Kopf, denn es ist ein Strom von Prominenz aus Kunst und Politik, der da vom Souterrain-Eingang her über die Treppe in die Bibliothek des Literaturhauses heraufkommt. Da fällt mein Blick auf Schuhsolen über mir – auch die Galerie ist voll besetzt. Schließlich ist es niemand geringerer als Herta Müller, die das diesjährige Festival eröffnet. Nach einleitenden Worten von Robert Huez, Leiter des Literaturhauses, Festivalleiterin Anne Zauner und der Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler tritt die Nobelpreisträgerin zum frisch desinfizierten Rednerinnenpult und beginnt mit Erich Frieds Gedicht „Zur Stalinfrage“, bei dem sie auch enden und dazwischen einen Bogen von der vergangenen kommunistischen Diktatur Rumäniens zur gegenwärtigen in Russland spannen wird.
„Vor der Tür saß mal der Zufall“ – der Titel ist einer ihrer Textcollagen entlehnt. Der Zufall sei ein Fall, ein Absturz ins Ungewisse – so Müller – und immer beteiligt an den wesentlichen Entscheidungen des Lebens, den „kurzatmigen Entscheidungen mit ihren ewiglangen Folgen“. Gerade dann, wenn es wirklich drauf ankomme, kämen die Wörter, wie sie wollen, und seien nie die richtigen.
Herta Müller bezieht sich dabei vor allem auf ihre Erfahrungen mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate; auf die Situation des Verhörs, die sie – was die Sprache betrifft – als eine der undurchschaubarsten Situationen beschreibt; diejenige, in der am wenigsten Zeit für die richtige Wahl der Wörter ist. Herta Müller wehrte sich dagegen, als Spitzel für das kommunistische Regime Rumäniens arbeiten zu müssen. Die Folge war ihre Verleumdung: Gerade des Verweigerten wurde sie fortan verdächtigt (sogar noch bei ihrer Einreise in die BRD 1987 durch den deutschen Verfassungsschutz). Der Gang zum Verhör wurde regelmäßiger Teil ihres Alltags. Als eine leere Freiheit mit kalten Augen und weißen Pfoten beschreibt sie die Zeit zwischen den Verhören; keine Freude, bloß Erleichterung stellte sich ein, wenn sie ein ums andere Mal dem Gefängnis entkommen und wieder auf dem Weg nach Hause war; Handtuch und Zahnbürste für den Fall der Inhaftierung jedes Mal dabei.
Ein Sich-Verlieren in surrealer Sprache, eine Art von Eskapismus half ihr, ihre Begegnungen mit der Securitate zu ertragen. „Die Zeit ist ein Dorf“, „die Angst hat das kürzeste Gesicht“ – Herta Müller holt aus, lässt uns teilhaben an ihren Tagträumen am Weg von und zu den Verhören, an ihren Wortschöpfungen im Angesicht der Bedrohung. „Vereinsamt hat nichts mit Samt zu tun“ – rumänische Polizisten am Straßenrand, immer sind sie ortsfremd, sie stehlen Obst, reiben den blauen Samt der Pflaumen an ihren blauen Uniformen ab.
Der Beamte nähert sich ihr im Verhörraum, so erzählt Müller. Sie erwartet eine Ohrfeige, doch stattdessen zupft er bloß ein Haar von ihrer Schulter. „Legen Sie das zurück, das gehört mir“ entgegnet sie. Die Wörter fallen vom Kopf in den Mund und kristallisieren dort – so schlägt Müller wieder die Brücke zum Zufall – und gehen im Nachhinein, wenn das Verhör vorbei ist, immer und immer wieder bang und voll Angst im Kopf im Kreis. Umso erstaunter ist sie, dass auf ihren schroffen Ausbruch keine Strafe folgt. Tatsächlich legt der Beamte das Haar zurück, dreht sich mit dem Rücken zu ihr und lacht bloß hysterisch.
Herta Müller erzählt von Herabwürdigungen, von den Obszönitäten und Gewalttätigkeiten der Sprache der Securitate-Beamten, denen sie ausgesetzt war, und lässt dabei nichts aus. An dieser Stelle dockt sie an die Gegenwart an: „Ob’s dir gefällt oder nicht, du wirst dich fügen müssen, meine Schöne“ so Putin über die Ukraine, in Vergewaltigungsphantasien schwelgend. Müller versucht eine Analyse der Persönlichkeit des Diktators und einen Vergleich von Putin und Ceausecu. „Immer dasselbe verdammte, wahnsinnige Muster.“ Ceausecu ließ alle Kinder, mit denen er auftrat oder fotografiert wurde, vor dem Treffen tagelang in Quarantäne stecken. Jeder Anzug, den er anlegte, sollte keimfrei sein und kam frisch aus der Plastikverpackung. Die zischelnde Satzmelodie, die gaunerhafte Berechnung der Lüge, der schief hängende Blick beim Erpressen, ein Sadismus, um sich selbst zu spüren – Herta Müller zählt auf, was sie an Ceausecu erkannte und heute an Putin wiedererkennt.
Sie schließt mit einem Seitenhieb auf die österreichische Politik, kritisiert die Verhinderung der Rede von Selenskyj im Parlament und landet damit wieder da, wo sie angefangen hat, bei Erich Frieds Zitat zur Stalinfrage: „Wer heute immer noch von der ‚Stalinfrage‘ spricht, der gibt eine Stalinantwort.“