Tag 5
Schwerpunkt Graphic Novel
Die dichte an Undercuts, dicken Kopfhören, Doc Martens und Tatoos ist am Samstag merkbar angestiegen. Ein Hauch rebellischer Nerdigkeit erfrischt die Sitzreihen im Literaturhaus, ganz so wie es einem Comic-Schwerpunkt gebührt. Gleich zu Beginn erwähnt die erste Künstlerin des Tages, die 1987 geborene Olivia Vieweg, dass sie in jüngeren Jahren und auch während ihres Studiums an der Bauhaus-Uni in Weimar überzeugt davon war, dass sie mit ihrer Leidenschaft sicherlich niemals Geld verdienen werde können (etwas, das übrigens auch alle anderen Graphic-Novel-KünstlerInnen sagen werden, die an diesem Tag folgen). „Endzeit“, ihren ersten Langcomic, hielt sie deshalb zugleich für ihren letzten. Er war ihre Abschlussarbeit an der Uni; die Verfilmung durch ein fast ausschließlich weibliches Team feierte im Vorjahr beim Toronto International Film Festival Premiere. Auch die Besetzung des Comic selbst ist weiblich. Zwei junge Frauen versuchen, nachdem ihr Zug mitten auf der Strecke stehen geblieben ist, sich zu Fuß durchzuschlagen, und das in einer von Zombies bevölkerten Welt. „Endzeit“ sei kein dezidiert feministisches Projekt gewesen, erzählt Vieweg, dieser Aspekt sei ihr erst im Schaffensprozess klar geworden. Dennoch ist die Stärkung weiblicher Positionen in Viewegs Werk ein Anliegen. Die Wurzeln ihres Schaffens liegen im Manga, das „Ende der 90er wie in eine Vakuum hereingebrochen“ sei. Bei ihr sei es „der Hunger nach weiblichen Superheldinnen“ gewesen, der sie früh für Mangas brennen ließ. Außerdem, so Vieweg, kam mit dem Manga das epische Erzählen ins Comic, die Entwicklung und das Altern von Charakteren; ein Erzählen in Episoden zwar, von denen aber jede Konsequenzen auf die folgenden hat, etwas, das seit geraumer Zeit auch auf dem Feld der Fernsehserien angekommen ist.
Die Zeichnerin und Illustratorin Nina Dietrich, die das Gespräch mit Olivia Vieweg führt, merkt an, dass sie Mangas aus optischen Gründen anfangs abgelehnt habe, bis sie bemerkte, dass es eben um eine besondere Art von Stroytelling gehe; und um Frauen. Sie stehe zu ihren Wurzeln im Manga, so Vieweg, auch wenn dieser Stil im Literaturbetrieb als minderwertig erachtet werde . Die Affinität oder Ablehnung bezüglich Manga sei auch eine Generationenfrage und eine Frage der Sozialisation, sind sich die jüngere Vieweg und die ältere Dietrich einig, und an dieser Stelle erinnere ich mich, wie wenig Beachtung ich tags zuvor beim Durchblättern der Graphic-Novel-Beiträge in der Kolik-Spezial-Ausgabe zu den Erich-Fried-Tagen den von Vieweg gestalteten Seiten schenkte, da ihnen etwas Knalliges und einen Tick Künstliches anhaftete, und mich lieber den „ernsteren“ Beiträgen von Sacco und Ware widmete. Dass sie aber auch ganz hochkulturig kann, bewies Vieweg unter anderem mit ihrer Mark-Twain-Adaption „Huck Finn“ für Suhrkamp (aus Jim wird da die staatenlose Zwangsprostituierte Jin) oder, ganz aktuell, einer Bearbeitung von Antigone für Carlsen.
Anders als man vielleicht denken würde, erweist sich gerade der Comic-Tag schon zu Beginn als besonders fordernd. Nicht nur ist das Gespräch auffallend schnell und angeregt, noch dazu ist im Hintergrund beständig Bildmaterial der KünstlerInnen projiziert: Zentral dafür, wie ein Comic wahrgenommen werde, seien die Augen, demonstriert Vieweg. Teils runde Kreise mit Punk, teils nur ein Strich als Augenlid erzeugen diese Augen trotz der realistischen Körper und der klaren Farben eine größere Nähe zu dem, was man vielleicht pejorativ als Comic in Gegensatz zum ernsten Graphic-Novel bezeichnen würde, eine ohnehin umstrittene Schubladisierung, die man spätestens nach dem heutigen Gespräch hinterfragen sollte.
Der Nachmittag geht weiter mit der kanadischen Künstlerin Emily Carroll
. Interviewt wird sie von Edda Strobl von Tonto-Comics, der Plattform für „Bild Text Literatur“, (die sich im Übrigen im Namen wie im Mission Statement eben dem Begriff Comic und nicht dem Graphic-Novel verschreibt, wobei gerade dieses Kollektiv um Strobl und Helmut Kaplan seit dem Jahr 2000 ganz besonders experimentierfreudig und avantgardistisch agiert.) Barocke Schnörkel, schwarz-weiß-rot, viele Ranken und ein Hauch von Gothic-Ästhetik bestimmen die Projektionen hinter den beiden Frauen. Dann aber wieder ein minimalistisches, weiß und lila gehaltenes Bild einer Stehlampe, dahinter ein Portrait dreier Sessel in einem Rahmen. He’s behind you/by the door/in the spot where you just were/just a moment before – die vier Zeilen sind über das Bild verstreut, in unterschiedlichen Größen, als repräsentierten sie verschiedene Lautstärken oder als würde die sprechende Stimme ihre Position wechseln, den Betrachter umkreisen. Strobl streicht an Carrols Sprachverwendung das Musikalische heraus und vergleicht ihre Sätze mit Mantras. Die strikte Leserichtung ist aufgelöst. Caroll selbst erzählt, sie setzte Sprache generell sparsam ein und orientiere sich immer am Gesprochenen. Alles lese sie sich selbst laut vor. Carroll schließt dabei eine Verbindung zu den Gute-Nacht-Geschichten ihrer Kindheit – Mythen, Märchen, Urban Legends – was ihr als Kind erzählt wurde, sei, so wie Carrolls heutiges Werk, sehr blutrünstig gewesen. Ihr Vater sowie ihr vier Jahre älterer Bruder waren große Liebhaber des Horrors. So wuchs die Comic-Autorin bereits als Kind in dieses Genre hinein. Gerät sie heute in ein Gespräch über einen bestimmten Horrorfilm, so erinnert sie sich immer, ihn schon als Kind gesehen zu haben. Aber wichtige Stellen fehlen in ihrer Erinnerung: Bei den heftigsten Szenen habe ihr ihr Vater Augen und Ohren zugehalten.
Sie erinnert sich an sich selbst als besonders ängstliches Kind. Der Lichtschalter der Nachttischlampe musste immer zum Greifen nahe sein, ohne die Bettdecke verlassen zu müssen. Horror sieht Carroll in diesem Sinn als etwas Therapeutisches. Nicht nur könnte man sich eben Augen und Ohren zuhalten, man weiß auch, der Horror-Film hat ein Ende – ein kontrollierter Weg, Angst zu erforschen. Alle Charaktere in ihren Werken seien auf eine gewisse Art sie selbst: Sie erschaffe sie, quäle sie und schaue, was dabei herauskommt. Hierin besteht die Heilung, die Therapie. Happy-Ends sind nicht vorgesehen. Auch will sie ihren Horror nicht in den Dienst moralischer Botschaften stellen, wie sie nicht nur Märchen innewohnen, sondern auch dem Gros der Horror-Comics der 50er bis 70er Jahre.
Wegen der schwarzen Romantik und den viktorianischen Elementen in ihren Arbeiten, werde sie immer wieder für eine Britin gehalten. Teil dieses Missverständnisses dürfte auch ihr Geburts- und mittlerweile wieder Wohnort London sein. Nur liegt dieses London nicht in England, sondern in Kanada Kanada. Carroll lebt mittlerweile wieder dort, von wo sie als Heranwachsende unbedingt fort wollte. Inzwischen mag sie es, auf dem Land zu leben und das Umfeld ihre künstlerische Arbeit beeinflussen zu lassen. Besonders der Schneefall dort, im Süden der Provinz Ontario, sei beeindruckend. Ein paar schwarze Bäume vor riesigen, blanken Schneefeldern – das sei alles, was im Winter von der Landschaft noch übrig sei.