Den letzten Block am Donnerstag bestreitet der als zukünftiger Nobelpreisträger gehandelte ungarische Autor László Krasznahorkai, einstiger WG-Genosse von Alan Ginsberg und von Susan Sontag als „derzeitiger ungarischer Meister der Apokalypse“ bezeichnet. Das Gespräch führt sein langjähriger Lektor beim S.Fischer-Verlag, Hans-Jürgen Balmes.
Wie der Einschlag eines Meteors sei es die letzten dreißig Jahre jedes Mal gewesen, wenn ihn ein neues Manuskript von Krasznahorkai erreiche, so Balmes. Besondere Dichte und Schwere zeichnen seine Werke aus – so breitet der Lektor in der Einleitung seine Metapher weiter aus – und ein besonderes Licht spenden sie im Dunkeln. Dunkel und schwer also, kreisend um das Leiden in der pannonischen Tiefebene, doch dann, so wendet Balmes ein, fände man heraus, dass dieser Autor am liebsten Don Cherry hört, seinen lebhaften, fröhlichen Free-Jazz mit Einflüssen aus der Musik des afrikanischen Kontinents. Nicht bloß als dunkel und schwer, und keineswegs bloß auf Ungarn fixiert, haben wir Krasznahorkai zu begreifen. In seinen in der Mongolei, in Shanghai und an vielen anderen Orten spielenden Texten erlebe man vielmehr den nicht endenden Strom chaotischer Kraft, der über den Menschen hereinbricht, sich auf ihn überträgt, „das Singen des Drachen in den kahlen Bäumen“, so zitiert Balmes Dōgen.
Vor 35 Jahren sei er das erste Mal in Wien gewesen – so Krasznahorkai selbst in seiner Begrüßung des Publikums – und damit das erste Mal in der freien Welt. In der Alten Schmiede fühlte er sich damals sehr wohl. Abseits davon war er irritiert, beobachtete seine in Wien lebenden Landsleute beim Kaufen von Kühlschränken auf der Mariahilfer Straße. Warum sind die nicht alle im Kunsthistorischen Museum? Wenn das die Freiheit ist, was sollen wir mit ihr anfangen, wenn sie dann endlich kommt? So fragte sich der Ostblockbewohner Krasznahorkai, bevor er eine Passage aus seinem Werk liest.
Während das Publikum die deutsche Übersetzung auf den Bildschirmen hinter der Bühne verfolgt, hält Krasznahorkai seine Lesung im Original, in dem jedoch immer wieder deutsche Wörter durchblitzen und so dem ungarischfernen Publikum ein wenig Orientierung im Text bieten: Rostbratwurst, Rosengarten, Bockwurst. Die Stelle handelt von einer alkoholschwangeren Feier zum Ersten Mai in einer deutschen Idylle, der fiktiven Ortschaft Kana (PLZ 07769). Sie ist der Schauplatz von Krasznahorkais aktuellen Roman „Herscht 07769“ – dessen Protagonist Florian Herscht ist überzeugt, dass es ein Antimaterieteilchen zu viel im Universum gibt, weshalb er sich mit der Bitte um Rettung der Welt in Briefen an die Kanzlerin und Physikerin Angela Merkel wendet. Diese antwortet nie. Herscht gerät ins Umfeld von Neonazis. Die Musik von Bach, die er bei Orchesterproben in der örtlichen Turnhalle hört, wird jedoch bei dem einfältigen und gutgläubigen Mann „einen Schalter umlegen“, seine geistigen Sinne erwecken, ihn zu einer anderen Welt finden lassen. „Florian Herschts Bach-Roman“, so der Untertitel des Werks.
Gerade noch hätten sie es geschafft, das Buch zur Amtszeit Merkels zu veröffentlichen und es sei – der Lektor schwört es – das allererste Buch in der Geschichte, das mit dem Namen Angela Merkel beginnt. Genauso wie Florian Herscht im Buch hätten Autor und Lektor der damaligen Kanzlerin daraufhin einige Briefe geschrieben, jedoch nie eine Antwort erhalten.
Eine formale Besonderheit des Buches konnte das Publikum in der Lesung live erleben: Krasznahorkai macht keine Punkte. Die ganzen 400 Seiten des Romans sind ein und derselbe Satz. Es war das einzige Manuskript, dass er vor dem Druck von einer externen Person nochmals Korrektur lesen ließ, erzählt der Lektor, und zwar, um sicherzugehen, dass nicht doch ein Punkt hineingerutscht ist (es gab einen Doppelpunkt, dessen Herkunft völlig rätselhaft blieb).
Ob man diesen einen, einzigen Punkt ganz am Ende des Satzes, auf der allerletzten Seite des Buches, nicht auch weglassen hätte sollen, fragt der Lektor sich selbst und den Autor. Nein, erwidert Krasznahorkai, er brauche leider diesen einen Punkt zum Abschluss. Gleichzeitig schäme er sich dafür, ihn zu brauchen.
Er habe das Gefühl, „der Punkt gehört nicht zu uns“. Dieser Leerraum zwischen den Sätzen, den der Punkt erzeugt, sei wie ein ironisches Augenzwinkern, eine unaufrichtige Auslassung, und mache den Kontakt zu den Lesenden zynisch, künstlich. Krasznahorkai demonstriert seine These, indem er in betont kurzen Sätzen probeweise eine Liebes- und dann eine Hasserklärung an seinen neben ihm sitzenden Lektor richtet. Der Punkt, so spüre man, unterbreche den Strom, das stürmische Hereinbrechen, und das darf nicht sein.
„In St. Jago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblicke der großen Erderschütterung vom Jahre 1647, bei welcher viele tausend Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier, namens Jeronimo Rugera, an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken.“ Dieser Satz Heinrich von Kleists – den der Lektor herbeizitiert, um die Wichtigkeit formaler Aspekte bei Krasznahorkai und in der Literatur überhaupt anschaulich zu machen – der sei „nicht totzukriegen“. Er habe es versucht, so Balmes. Gemeinsam mit seinen Studierenden habe er jedes Wort durch ein anderes ersetzt, den Satz durch den Fleischwolf gedreht und nur seine syntaktische Struktur intakt gelassen. Ganz unabhängig vom Inhalt und aller denkbaren Albernheiten zum Trotz, die den Studierenden bei dem Experiment in den Sinn gekommen seien, habe der Satz seine Strahlkraft und seinen Rhythmus behalten.
Jedes Mal nach Fertigstellung eines Buches – so erzählt Krasznahorkai gegen Ende des Abends – erscheine dieses ihm als Fiasko. Das Schreiben sei traurig. Von vornherein wisse er nämlich schon, dass jedes Werk ihm am Ende als Fiasko, als Scheitern erscheinen wird, dass das Gefühl bleiben wird, es nochmal schreiben zu müssen. Und so bezeichnet er für den Rest des Abends jedes seiner Werke, auf die er sich bezieht, nicht mehr als Buch, sondern nennt sie bloß „das Fiasko“.
Hier am Ende scheint sich ein kleines Detail vom Anfang des Vortrages zu spiegeln, denn das, was einschlägt ist nicht der Meteor, den Balmes in seiner Eingangsmetapher benutzte, sondern der Meteorit. Der Meteor bezeichnet das bloße Phänomen einer Leuchterscheinung in der Atmosphäre und genau dieser unbemerkt gebliebene Unterschied enthält vielleicht Krasznahorkais in intimer und bedrückender Aufrichtigkeit geschilderte Angst, das unbedingte Bedürfnis des Schreibenden, etwas von Substanz zu erschaffen und die dauernde Furcht, dass das eigene Werk nur ein verglimmender Lichtblitz gewesen sein wird.