Sašha Filipenko „Die Jagd“

In Österreich könne sie ungestraft sagen, dass sie Herbert Kickl für einen Demagogen halte, beginnt Anne Zauner ihre Anmoderation,  Sašha Filipenko hingegen zahlte für seine politische Kritik mit vem Verlust der Heimat. Und so wird der mutige Mann, wie Zauner ihn nennt, mit anhaltendem Applaus auf der Bühne des dicht gefüllten Literaturhauses begrüßt.

Um den in Russland angesiedelten Roman über die Verfolgung eines Journalisten wird es heute gehen – „Die Jagd“, auch übersetzbar mit Hatz oder Hetze, so Kulturjournalist und Autor Günther Kaindlstorfer, der das Gespräch mit dem Autor führt. Dass es den kritischen Journalismus überhaupt gebe, merke die breite Öffentlichkeit meist erst, wenn seine Akteure ermordet oder inhaftiert würden, so Filipenko, ihm gehe es aber darum zu zeigen, wie diese Menschen jahrelang unter Druck gesetzt und in den Wahnsinn getrieben werden.

Abends im Lokal beim Wein rief ihn ein Freund an und fragte, ob er denn das Land schon verlassen habe. Erst da erfuhr Filipenko, dass er auf der schwarzen Liste steht, und zwar auf dem dritten Platz. Die ersten beiden waren schon verhaftet. Seither wisse er selbst nicht genau, wo er wohnt. Zwischen der Schweiz, Stuttgart, Amsterdam erleben Filipenko und seine Familie eine Odyssee voller Visumsproblem. Ein ordentlicher Aufenthaltstitel für einen renommierten und kritischen Autor, das sollte doch schaffbar sein – für die Schweiz und im Übrigen auch für Öserreich, so Kaindlstorfer.

Anlässlich seines Wien-Aufenthaltes erschienen mehrere Interviews mit Filipenko, in Tages- und Wochenzeitungen. Er spricht dort ganz offen auch über die Depressionen, die die aktuelle Situation und sein unfreiwilliges Nomadentum ihm bescheren. Trotz all der spürbaren Dringlichkeit und rhetorischen Gewandtheit, mit der Filipenko hier und heute auftritt, meint man, ihm auch ein Stückweit diese Bedrückung anzusehen.

Schon vor über zehn Jahren war Filipenko als Witzeschreiber für eine Fernsehshow mit dem Alltag der Zensur konfrontiert. Wegen der vielen Zeitzonen in Russland reisten die Sendungen am Tag nach ihrer Vorab-Aufzeichnung sozusagen durchs ganze Land und man konnte zusehen, so Filipenko, wie währenddessen Dinge gestrichen wurden, wie Witze beispielsweise in Jekaterinburg hängen blieben und es nicht bis Moskau schafften. 2014 sei es schon mit Selbstzensur losgegangen. Beim russischen Sender „Doschd“ (zu Deutsch „Regen“) war er beteiligt an Cartoons, die von den Mehrheitsverhältnissen in Putins Kopf handeln: Es seien dort immer zwei Dämonen und ein Engel, die demokratisch über das weitere Vorgehen entscheiden. Auch in Bezug auf die Krim-Annexion. Doch da verzichtete der Sender auf die Ausstrahlung des Formates, aus Angst, sonst geschlossen zu werden. Inzwischen sei er ohnehin geschlossen worden, so Filipenko.

Der Moment des Einflussnehmens wurde verpasst. Ein junger Mann bat Putin einmal, seinen YouTube-Kanal zu abonnieren („to subscribe“). Wo muss ich unterschreiben? Fragte Putin. Er habe keine Ahnung von diesen Konzepten, so Filipenko über die Weltfremdheit des Diktators, der sich damit rühmt, weder Facebook noch Google zu verwenden. Seine einzigen Informationsquellen seien drei Mappen von drei verschiedenen Behörden bzw. Geheimdiensten. An die müsste man herankommen, sie seien der einzige Weg, auf Putin Einfluss zu nehmen.

Filipenko liest eine Passage aus „Die Jagd“. Der Text springt von Szene zu Szene, beginnend auf einer Yacht bei Nizza, über einen blutigen Kampf zwischen Hunden und Bär, einen Musiker, der einem Zug in Mailand nachläuft und den Brief eines Journalisten an seine gerade eben geborene Tochter, kurz bevor sie vom Krankenhaus in ihr vorbereitetes Zuhause kommt, zu einer Szene im Gerichtssaal. Ein Journalist ist wegen eines leeren Postings angeklagt. Der Imperator spricht Worte, die nichts bedeuten, beschließt Gesetze, die keinen Sinn haben, so der Journalist im Gerichtssaal, auf diese Leere angesprochen. Eine Spitzfindigkeit sei das, so die Anklage, die Leere verspotte den Glauben der Leute, der Journalist und alle, die den Post geteilt haben, wollten Leere säen in den Herzen der Menschen, in der Jugend, in der Zukunft, die der Westen ihnen rauben wollte. Die Szene endet mit einer Werbepause und der Aufforderung an die Zuseher, per Handy über das Strafmaß abzustimmen (der Schuldspruch ist kostenlos, die Gebühren für einen Freispruch sind beim jeweiligen Netzanbieter zu erfragen).

Es sei in Ordnung, dass einige Leser das Buch nach ein paar Seiten aufgeben, so Filipenko, angesprochen auf das fiebrige Tempo, die unübersichtlichen Sprünge des Textes, in dem sich Orientierung erst nach einiger Zeit einstellt, wie Kaindlstorfer feststellt. Filipenko will zeigen, dass ein klares Bild Zeit und Arbeit braucht, dass der Weg zur Wahrheit mühevoll ist. Er möchte die Lesenden zu Mittätern machen, so der Autor, sie ermutigen, die wie die Motive in der Exposition einer Sonate ausgestreuten Splitter aufzusammeln und nach und nach zusammenzufügen.

Er habe enge Kontakte zu den Diplomaten eines bestimmten Landes (dessen Namen er nicht nennt), so spannt Filipenko gegen Ende wieder den Bogen zu Putin. Diese hätten verschiedene Szenarien durchgespielt, Prognosen erstellt, doch die Möglichkeit eines Krieges kam niemandem in den Sinn. Es wäre ihnen geradezu peinlich gewesen, so etwas zu behaupten, ganz einfach, weil es überhaupt keinen Sinn ergibt, so Filipenko, für den Krieg in der Ukraine gibt es keinen rationalen Grund.

Nach Kaindlstorfers Schlussworten meldet sich Filipenko mit einem Nachtrag noch einmal zu Wort: „Das Leben hat mir eine Metapher geschenkt.“ Kürzlich, bei einer Lesung in Stuttgart, ging er auf Krücken. Er hatte sich beim Fußballspielen verletzt und hatte einige Probleme, seinen Koffer aus dem Auto auszuladen. Einer der Nachbarn kam herunter. Um zu helfen – so dachte Filipenko. Stattdessen wies der ihn nur darauf hin, sein Auto nicht zu zerkratzen. Dieser Stuttgarter stehe stellvertretend für Europa in der Ukraine-Frage, so Filipenko: Europa hat Angst, einen Kratzer zu bekommen.