Fürsprache und Widerworte – Rückschau 2022

Ein Festival über die gesellschaftsverändernde Kraft von Literatur

Noch ganz unter dem Eindruck des Einmarsches russischer Truppen auf ukrainisches Staatsgebiet im Februar 2022 fand das Internationale Literaturfestivals Erich Fried Tage  von 30. März – 3. April 2022 statt. Unter dem Motto Fürsprache und Widerworte wurden Themen wie die Auflösung demokratischer Systeme, auseinanderdriftende Gesellschaftsschichten, sich radikalisierende Bevölkerungsgruppen, Umweltkrisen und Krieg verhandelt.

Eingeladen waren 20 Autor*innen aus Europa, Übersee und Österreich, die sich in Lesungen, Vorträgen und Gesprächen mit gesellschaftspolitisch relevanten Themen auseinandersetzen. Auf dem Programm standeb ein Festvortrag, 9 Buch- und Comic-Präsentationen – der Großteil davon Österreich-Premieren –, ein umfangreicher Lyrik-Schwerpunkt, ein Konzert und 2 Preisverleihungen.

 

Das Programm in Auszügen

Festvortrag – Herta Müller Vor der Tür saß mal der Zufall
Eröffnet wurde das Festival durch Stadträtin Veronica Kaup-Hasler.
Die eigens für die Erich Fried Tage verfasste Festrede hielt Nobelpreisträgerin Herta Müller.

Buch- und Comic-Premieren
Guillermo Arriaga (Mexiko) – Das Feuer retten (Klett-Cotta, 2022)
Der international gefeierte mexikanische Schriftsteller, Drehbuchautor (Amores Perros, 21 Gramm, Babel) und Filmregisseur kam erstmals nach Österreich. Auch in seinem neuen, kunstvoll gebauten Roman Das Feuer retten prangert Arriaga wortgewaltig die soziale Ungerechtigkeit in seiner Heimat an und beschwört die enorme Sprengkraft zwischen Arm und Reich.

László Krasznahorkai (Ungarn) – Herscht 07769 (S. Fischer, 2021)
Der mit dem International Man Booker Prize und zuletzt 2021 mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnete Autor legte mit Herscht 07769 sein stilistisch radikalstes Werk vor, eine faszinierende Dystopie, die sich über 400 Seiten in einem endlosen Satz aufspannt.

Phil Klay (USA) – Den Sturm ernten (Suhrkamp, 2021)
Der u. a. mit dem National Book Award ausgezeichnete Autor hat mit Den Sturm ernten ein Schlüsselwerk über die Zerstörungskraft der modernen globalisierten Kriegsführung verfasst – „ein hochbrisantes politisches, ja weltpolitisches Werk“ (SWR Bestenliste)

Sasha Filipenko (Belarus) – Die Jagd (Diogenes, 2022)
Der weißrussische Autor erzählt die Geschichte des idealistischen Journalisten Anton Quint, der sich mit einem Oligarchen anlegt. „Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich zeigen wollte, dass Mord nicht die einzige Art ist, auf Journalisten Druck auszuüben.“ (Filipenko)

Zum Festivalabschluss erhielt der deutsche Autor Frank Witzel (Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, Matthes und Seitz 2015) den Erich Fried Preis 2021. Die Laudatio hielt der alleinige Juror Ingo Schulze.


Im Folgenden finden Sie Bilder und Videos vom diesjährigen Festival sowie die Blogeinträge des beiden Festival-Autors • Jakob Kraner.

Alle Fotos: © Lukas Dostal


Nachlese:
In der Sonderausgabe der österreichischen Literaturzeitschrift kolik (Heft Nr. 89|90) sind alle Festivalteilnehmer*innen mit eigenen Texten vertreten.


Dienstag, 30. März 2022

Grußworte: Robert Huez (Leiter Literaturhaus Wien)
Festivaleröffnung:  Veronica Kaup-Hasler (Stadträtin für Kultur und Wissenschaft)
Zum Programm und Einbegleitung Herta Müller: Anne Zauner  (Festivalleiterin)
Festvortrag:   Herta Müller: Vor der Tür saß mal der Zufall

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
 „Vor der Tür saß mal der Zufall“ – der Titel ist einer ihrer Textcollagen entlehnt. Der Zufall sei ein Fall, ein Absturz ins Ungewisse – so Müller – und immer beteiligt an den wesentlichen Entscheidungen des Lebens, den „kurzatmigen Entscheidungen mit ihren ewiglangen Folgen“. Gerade dann, wenn es wirklich drauf ankomme, kämen die Wörter, wie sie wollen, und seien nie die richtigen.

Erich Fried Tage 2022 - Eröffnungstag


Mittwoch, 31. März 2022

Rückschau Erich Fried Tage: Tag 2 – Literaturwettbewerb, Caleb Azumah Nelson, László Krasznahorkai


16 Uhr: Preisverleihung Literaturwettbewerb Eine Stadt von morgen


18 Uhr: Caleb Azumah Nelson (GB, Ghana): Freischwimmen (Open Water, Viking Press 2021 | aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner, Kampa 2021)
Moderation: Florian Baranyi (Kulturjournalist und Kritiker)

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
Azumah Nelson spricht sanft, voll kindness möchte man sagen (mir scheint, für dieses Wort gibt es keine gute Übersetzung), er schafft es, auch aus dem Literaturhaus für eine Stunde eben einen solchen Platz zu machen, einen Ort aufrichtiger Begegnung, in dem das Publikum unmittelbar teilhaben kann an all den Hintergründen und Erfahrungen, die in das Buch mit einflossen.


20 Uhr:László Krasznahorkai (Ungarn): Herscht 07769 (Herscht 07769, Magvető Publishing, 2021 | aus dem Ungarischen von Heike Flemming, S. Fischer 2021)
Moderation: • Hans-Jürgen Balmes (Lektor, Herausgeber und Übersetzer)

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
Jedes Mal nach Fertigstellung eines Buches – so erzählt Krasznahorkai gegen Ende des Abends – erscheine dieses ihm als Fiasko. Das Schreiben sei traurig. Von vornherein wisse er nämlich schon, dass jedes Werk ihm am Ende als Fiasko, als Scheitern erscheinen wird, dass das Gefühl bleiben wird, es nochmal schreiben zu müssen. Und so bezeichnet er für den Rest des Abends jedes seiner Werke, auf die er sich bezieht, nicht mehr als Buch, sondern nennt sie bloß „das Fiasko“.


Donnerstag, 1. April 2022

Rückschau Erich Fried Tage: Tag 3 – Lyrikschwerpunkt, Sasha Filipenko, Phil Klay, Ernst Molden


15 Uhr:Lyrikschwerpunkt
Max Czollek im Gespräch mit Teresa Präauer, mit Ricardo Domeneck, Barbara Juch, Adi Keissar, Ronya Othmann
17 Uhr: Teresa Präauer im Gespräch mit Ricardo Domeneck und Ronya Othmann

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
„Es hilft nicht, zu sagen, Gewalt ist schlecht“, so Max Czollek – Kurator des  Lyrikschwerpunkts am Freitagnachmittag – im einleitenden Gespräch mit Theresa Präauer über das Festivalthema „Fürsprache und Widerworte“ und zugleich als Widerwort zur Poetik seines Namensgebers Erich Fried. Lyrik solle vielmehr dem „ohrenbetäubenden Krach Raum geben“; Gedichte sollen Dinge in den Raum stellen, sich ihnen nähern, sie zeigen, unabhängig von einer unmittelbaren Bewertung als gut oder schlecht.


18 Uhr: Sasha Filipenko (Belarus): Die Jagd (Trawlja, Wremja 2016 | aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, Diogenes 2022)
Moderation:  Günter Kaindlstorfer (Kulturjournalist und Autor)
Dolmetschung:  Mascha Dabić.

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
In Österreich könne sie ungestraft sagen, dass sie Herbert Kickl für einen Demagogen halte, beginnt Anne Zauner ihre Anmoderation,  Sašha Filipenko hingegen zahlte für seine politische Kritik mit vem Verlust der Heimat. Und so wird der mutige Mann, wie Zauner ihn nennt, mit anhaltendem Applaus auf der Bühne des dicht gefüllten Literaturhauses begrüßt.


20 Uhr:Phil Klay (USA): Den Sturm ernten (Missionaries, ‎ Penguin Press 2020 | aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer, Suhrkamp 2021)
Moderation:  Sebastian Fasthuber (Literatur- und Musikkritiker)

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
Klays Literatur dreht sich um den Krieg. Der US-amerikanische Autor ist selbst ehemaliger Marine und war 2007 für dreizehn Monate im Irak. Er wolle sich nicht auf einen einzigen Konflikt konzentrieren, außerdem brauche es verschiedene Stimmen, um den Krieg greifbar zu machen, daher sind es vier verschiedene Perspektiven, aus denen Klays Buch erzählt ist, und vier kurze Lesungen, die ins Gespräch eingestreut sind.


22 Uhr:  Best-of • Ernst Molden (Österreich) – Konzert


Samstag, 2. April 2022

Rückschau Erich Fried Tage: Tag 4 – Jennifer Daniel, Nate Powell, Guillermo Arriaga


14 Uhr: Comic-Albumpräsentation & Gespräch
 Jennifer Daniel (D
): Das Gutachten (Carlsen 2022) und Earth Unplugged (Jaja 2014)
ModerationMatthias Wieland(Übersetzer, Moderator und Comic-Vor|Leser)


18 Uhr: Nate Powell (USA): Save It for Later (Save It for Later, Abrams 2021 | aus dem amerikanischen Englisch von Christian Langhagen, Carlsen 2021)
Moderation:  Matthias Wieland (Übersetzer, Moderator und Comic-Vor|Leser)

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
Man spiele sie immer herunter, diese kleinen Momente – so Nate Powell – subtile Momente von Angst und Schweigen; im Geschäft oder wenn man in der U-Bahn sitzt… Es sei eben subtil gewesen und nicht der eine große, autoritäre Einschlag, was in den USA im Zuge von Trumps Machtübernahme geschah. Dennoch ein politischer und gesellschaftlicher Übergang, der festgehalten werden musste, für ihn selbst und für seine Kinder.


20 Uhr: •  Guillermo Arriaga (Mexiko): Das Feuer retten (Salvar el fuego, Alfaguara 2020 | aus dem Spanischen von Matthias Strobel, Klett-Cotta 2022)
Moderation:  Wolfgang Popp (Kulturjournalist und Autor)
Dolmetschung:  Birgit Weilguny

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
Ihr seid die, die Angst haben – so beginnt Arriaga aus seinem Roman „Salvar el fuego“/“Das Feuer retten“ zu lesen – Angst davor, dass man eure Töchter vergewaltigt, eure Söhne entführt. Unsere Töchter sind schon von Geburt an vergewaltigt, unsere Söhne von Geburt an entführt. Das „Manifest“, die von Wut, Angst, Blut, Fleisch und Exkrementen durchzogene erste Lesestelle über ein wütendes, schmutziges Wir und ein angsterfülltes rolextragendes Ihr endet schließlich mit einem Namen und einer Häftlingsnummer.


Sonntag, 3. April 2022

Rückschau Erich Fried Tage: Tag 5 – Erich Fried Preis 2021


11 Uhr:Verleihung des Erich Fried Preises 2021 an Frank Witzel

Grußworte:  Robert Schindel (Präsident der Internationalen Erich Fried Gesellschaft)
Grußworte und Vorstellung des Jurors Ingo Schulze:  Robert Huez (Leiter Literaturhaus Wien)
Laudatio:  Ingo Schulze, alleiniger Juror 2021
Preisverleihung durch  Jürgen Meindl (Leiter der Sektion Kunst- und Kultur, BMKÖS)
Preisrede:  Frank Witzel
Musikalische Umrahmung: Gesang: Cosima Büsing | Klavier: Stella Marie Lorenz | Komposition: Bernhard Lang

Aus dem Festivalblog von Jakob Kraner:
Der Preisträger widmet seine Rede der Dummheit bzw. dem Gefühl der Dummheit, das ihn selbst nicht nur in der Jugend, sondern auch im Alter begleite. Je mehr er sich mit etwas beschäftige, je stärker er eine Meinung zu einem Thema entwickle, umso dümmer fühle er sich.